Eva Helfrich
Eva Helfrich
 schrieb am 1. August 2024

Neurodiversität am Arbeitsplatz: Wie Autismus, ADHS und Legasthenie Ihr Unternehmen stärken können

In Österreich gibt es über eine Million neurodiverse Menschen. Warum diese Talente den Arbeitsmarkt revolutionieren könnten, erklärt Anna Marton, CEO von Amazing 15.

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Neurodiversität

„246“ – Ein einziger kurzer Blick reichte Dustin Hoffman in „Rain Man“, um die Anzahl an Zahnstochern zu erfassen, die aus der Packung gepurzelt waren. Weltweit gibt es nur etwa 100 „Savants“ (nach dem französischen Wort für „Wissende:r“) wie Kim Peek (der echte Rain Man), Temple Grandin oder Stephen Wiltshire; etwa die Hälfte von ihnen ist autistisch veranlagt.

Einzigartige Stärken erkennen und nutzen

Wie Forscher feststellten, ist für den Aufbau unserer „Schaltzentrale“ eine Kombination aus Genetik und individuellen Lebenserfahrungen verantwortlich. Dabei ist eine neurodiverse Entwicklung alles andere als selten: 15 % der Bevölkerung gelten als nicht neurotypisch. Diese Unterschiede sind keine Schwächen, sondern einzigartige Stärken. Autistische Menschen bringen oft außergewöhnliche Fähigkeiten in den Bereichen Mustererkennung und analytisches Denken mit, während Menschen mit ADHS unter Druck Höchstleistungen erbringen und innovative Lösungen entwickeln können.

Studien belegen: Neurodiverse Teams sind innovativer

Untersuchungen zeigen, dass neurodiverse Teams kreative Lösungen entwickeln, die konventionelle Denkmuster durchbrechen. SAP, Microsoft, Ford, Magenta, Deloitte, IBM, KPMG, dm oder die ÖBB: Immer mehr Unternehmen reformieren ihre HR-Prozesse, um neurodiverse Talente anzuziehen, viele werden von Amazing 15 begleitet.

Autismus: Ein anderes Betriebssystem, keine Fehlfunktion

Autismus, insbesondere das Asperger-Syndrom, wird häufig missverstanden. Viele Autist:innen beschreiben ihre empfundene Andersartigkeit metaphorisch als „Wrong Planet Syndrome“: das Gefühl, sich in sozialen Situationen häufig unverstanden oder fehl am Platz zu fühlen – als würde man auf dem falschen Planeten leben.

Aufgrund der Vermeidung von Blickkontakt (Forscher:innen vermuten eine Überempfindlichkeit für sozio-affektive Stimuli) werden Autist:innen zu Unrecht als abweisend oder desinteressiert wahrgenommen. Die angebliche Gefühlskälte autistischer Menschen sei ein Mythos, wie eine Spezialistin der Uni Wien im Interview betont. Der moralische Kompass sei oftmals sogar stärker ausgeprägt als üblich.

„Distanz ist eines der größten Geschenke für Menschen im Autismusspektrum“, weiß Anna Marton. Im Recruiting kann das bedeuten: lieber auf das Händeschütteln oder auf Blickkontakt verzichten.

Welche Berufe passen besonders gut zu Autist:innen?

Autist:innen bringen neben logischem Denkvermögen, Ehrlichkeit, Sachlichkeit, intrinsischer Motivation und einem Auge für Details oft eine enorme Stärke für repetitive Aufgaben mit, bei denen Genauigkeit gefordert ist und Muster erkannt werden – kein Wunder, dass auffällig viele Autist:innen als IT-Spezialist:innen, in der Qualitätskontrolle oder in technischen Berufen tätig sind. (Motto: Ich suche keine Fehler, ich finde sie!)

Welche Herausforderungen können am Arbeitsplatz auftreten?

Ergebnisse der Befragung Mit Autismus im Job:

  • Sozialkontakt, z. B. Smalltalk & Pausen (72 %)
  • Umweltreize wie Geräusche und Gerüche (68 %)
  • Flexibilität (63 %)
  • Schwierigkeiten mit Multitasking (62 %)
  • Einschränkung bei Teilnahme an Firmenfeiern & Ausflügen (53 %)
  • Teamarbeit mit Kolleg:innen (51 %)
  • Priorisierung von Aufgaben (46 %)

Mit welchen Maßnahmen man Autist:innen den Arbeitsalltag erleichtern kann, erfahren Sie in unserem eBook.

Wer mehr darüber erfahren möchte, wie es ist, als Autist zu arbeiten und zu leben, lauscht am besten Johannes Klietmann:

ADHS: Kreativ unter Druck

In der Schule noch Zappelphilipp oder Störenfrieda, im Job dann Ideenspringbrunnen, agiler Troubleshooter, begeisterungsfähige Multitaskerin: ADHS kennt man vor allem bei Kindern. Bei Erwachsenen erfolgt die Diagnose oft spät. Bei Menschen mit ADHS werden Dopamin und Noradrenalin schneller verstoffwechselt als bei neurotypischen Personen. „Ein ADHS-Gehirn findet Neues spannend“, so Anna Marton. „Menschen mit ADHS lernen schnell, korrigieren auf der Strecke. Teams, in denen Menschen mit ADHS und Autismus zusammenarbeiten, funktionieren herausragend, weil man sich gut ergänzt.“

Stress erwünscht – aber am besten mit Gleitzeit

Erwachsene mit ADHS sind häufig in ihrer Organisation gefordert: Zeitmanagement, Termine einhalten, sich über längere Zeit auf Aufgaben konzentrieren. Es sei denn, sie bleiben an Themen hängen, die sie faszinieren. Dann geraten sie in einen besonderen Flow-Zustand – auch Hyperfokus genannt. Bei Dingen, die innerlich „zünden“ werden Höchstleistungen erbracht.

Schnelle Gedankengänge, kreative Lösungen

In Studien schneiden Menschen mit ADHS-Symptomen besser bei Aufgaben ab, in denen divergentes Denken (Um-die-Ecke-Denken) gefordert ist. Abschlüsse in kreativen Fächern sowie Berufstitel in kreativen Jobs seien auffallend häufig zu verzeichnen. Eine mögliche Erklärung dafür könnte die Reizfilterschwäche sein, erklärt der Spezialist Martin Ohlmeier der Süddeutschen Zeitung. Da Reize weniger gefiltert werden, sei auch mehr Material da, mit dem gearbeitet werden kann.

Welche Jobs passen besonders gut zu Menschen mit AD(H)S?

Berufe, in denen rasch und unter Stress gehandelt werden muss, sind besonders gut geeignet, sagen Experten. Aufgrund der schnellen Auffassungsgabe, einem klaren Kopf in Notsituationen und dem guten Überblick seien sie oft auch als Notfallmediziner:innen, in der IT, Produktentwicklung, Wissensvermittlung oder im Marketing tätig.

Luisa Liesenberg, Beraterin für Neurodiversität am Arbeitsplatz, erklärt, wie neuroinklusives Arbeiten gelingen kann.

Neurodiversität im Recruiting: Bewerbungsprozesse anpassen

Diversity Management: Von Unterschieden profitieren

„Für Personalverantwortliche ist es sinnvoll, sich mit dem Spektrum auseinanderzusetzen“, sagt Anna Marton. Bewerbungsprozesse sind auf Menschen mit neurotypischen Eigenschaften ausgelegt. Wer alle qualifizierten Kandidat:innen erreichen will, kann...

  • eine lockerere Art des Kennenlernens ermöglichen, bei der die Person ihre Fähigkeiten praktisch unter Beweis stellen kann, z. B. bei einem Probearbeitstag
  • beim Jobinterview systemische Fragen stellen, um das Potenzial des Gegenübers einzuschätzen (keine indirekten Fragen!). Ein Gespräch auf Sachebene ist für Autist:innen einfacher
  • Vorab-Informationen zu teilnehmenden Personen und auf sie zukommenden Fragen schicken – vermeidet Stress
  • auf Smalltalk verzichten, stattdessen sehr präzise Fragen stellen. Führt zu aussagekräftigeren Stärkenprofilen
  • Ideale Einstiegsfragen:
    • Was macht Ihnen am meisten Spaß in diesem Job?
    • Warum arbeiten Sie gerne mit diesem oder jenem Programm?
    • Wie haben Sie Aufgabe X in Ihrem vorherigen Job gelöst?

Stellenanzeigen inklusiv gestalten: Tipps für neurodiverse Zielgruppen

  • Präzise Angabe der Tätigkeiten, die zum Job gehören
  • Wie häufig finden diese Tätigkeiten jeweils statt: täglich/wöchentlich/monatlich?
  • Gewichtung der Aufgabe: „Englisch von Vorteil“ vs. „30 % unserer Kundentermine finden auf Englisch statt“
  • Benötigte Qualifikationen
  • Fähigkeiten, die von Vorteil sind
  • Welche Arbeitsumgebung bietet das Unternehmen?
    • Flexible Arbeitszeiten
    • reizreduzierte Arbeitsumgebung
    • Buddy-Programm
    • Home-Office
    • kleines Team
    • sinnerfüllte Rolle, ...

Erfolgsfaktoren für ein inklusives Arbeitsumfeld

CEO Anna Marton hat uns verraten, mit welchen Maßnahmen es ihr gelungen ist, eine inklusive Arbeitsumgebung zu schaffen, in der sich Menschen mit unterschiedlichen Bedürfnissen wohlfühlen:

  • Großraumbüro mit mobilen Trennwänden
  • Dimmbares Licht für Arbeitsplätze
  • Geräuschreduzierende Kopfhörer helfen bei der Konzentration
  • In größeren Meetingräumen gibt es „Zappelphilipp-Plätze“ für Menschen mit Bewegungsdrang, die zwischendurch aufstehen müssen
  • Personen mit Autismus sitzen selten gern mit dem Blick in Richtung Fenster, weil sie oft lichtempfindlich sind
  • Wenn die Lichtsituation nicht anzupassen ist, kann indoor Sonnenbrille getragen werden
  • Strukturierte Termineinladungen mit klarer Agenda & Infos über vorzubereitende Unterlagen bis zu einer gewissen Deadline: Das macht die Sache sehr neurodivergent-gerecht, für Autist:innen wie für Personen mit ADHS, aber auch klar für alle, die das nicht betrifft. Wir geben den Agendapunkten Zeitfenster und geplante Pausen
  • After Work-Termine ähnlich vorbereiten: Was ist das Ziel? Was ist das Thema? Was zieht man an?
  • 1x im Quartal gibt's eine Retrospektive im Team: Was hat gut funktioniert, was ist ungeklärt/noch unbewertet, was wünschen wir uns besser?
Anna Marton

Anna Marton, CEO Amazing 15:

Im neurodivergenten Bereich liegen 15-20 % der Menschen und indirekt betrachtet sind es noch viel mehr, wenn man Angehörige miteinbezieht, die Kaufentscheidungen treffen. Wenn man als Unternehmen darauf Rücksicht nimmt, kann man sehr viel gewinnen an potenziellen neuen Talenten, Loyalität, Fluktuationsabbau. Nur die, die in der Lage sind, den gesamten Arbeitnehmermarkt zu erreichen, werden Produkte, Dienstleistungen und Angebote entwickeln, die den Unterschied machen.

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